Die Netzzeit geht nach
Sowohl Heise als auch Spiegel-Online berichten, dass die von der Netzfrequenz des kontinentaleuropäischen Verbundnetzes abgeleitete Netzzeit seit Anfang 2018 nachgeht – und zwar mittlerweile recht erheblich um fast sechs Minuten. Den exakten Wert erfährt man auf der Website des Schweizer Übertragungsnetzbetreibers Swissgrid zur Frequenz.
Grundsätzlich ist das ersteinmal nicht weiter dramatisch. Uhren, die die Netzfrequenz als Zeitgeber nutzen, sind heutzutage eher Ausnahmen, finden sich aber noch immer in Herden, Mikrowellen und Radioweckern. Genauere Zeitgeber sind das DCF77-Funksignal für Funkuhren oder das „Network Time Protocol“ für Geräte, die mit dem Internet verbunden sind.
Wenn, wie in diesem Fall, der Grund für den im Mittel unterhalb des Sollwertes von 50 Hz liegenden Frequenzwert aber in einem Fehlverhalten eines Verbundnetzpartners liegt und dadurch dauerhaft Regelreserve in Anspruch genommen wird, die eigentlich für Störfälle im Verbundnetz bereit gehalten wird, ist das für die Frequenzstabilität des kontinentaleuropäischen Verbundnetzes nicht zu begrüßen.
Spannend ist, dass die Nachrichten-Artikel sowohl bei Heise als auch Spiegel-Online jedweder Ahnung entbehren, was der eigentliche Hintergrund für diese große Abweichung ist. Die Recherche-Zeit der Journalisten ist wohl auch für so ein Thema zu kostbar. In den Kommentaren bei Heise findet sich unter den über 1000 Wortmeldungen, wie gewöhnlich, fast ausschließlich Unfug. Man mag es den Kommentatoren nachsehen, dass sie von Energietechnik wenig bis keine Ahnung haben – es zeigt sich leider an diesem Beispiel wieder einmal deutlich, was in den Kommentarspalten des Internets, bis auf wenige Ausnahmen, zu finden ist: Nichts außer inhaltsfreiem Getrolle. Ein einziger Kommentar bildet die Ausnahme: In diesem wird auf eine Newsgroup verwiesen, in der tatsächlich jemand mal nachgeforscht und bei einer seriösen Quelle angefragt hat anstatt nur wild zu spekulieren. Und zwar bei Swissgrid direkt.
Die Antwort kommt von keinem Geringeren, als von Dr. Walter Sattinger, seines Zeichens Spezialist für Systemstabilität, der immer ein Auge auf die Netzpendelungen im kontinentaleuropäischen Verbundnetz hat:
Sehr geehrter Herr Brombach,
danke für Ihre Anfrage. Die Website „spinnt“ leider nicht; wir haben
tatsächlich diese extreme elektrische Zeitabweichung von z.Z. über 250 Sekunden.Diese hat sich im Laufe der letzten eineinhalb Monate aufgrund des Fehlverhaltens
eines Verbundnetzpartners im kontinentaleuropäischen Netz so auf integriert.
Wir arbeiten in Kooperation mit weiteren Netzbetreibern an einer Lösung.
Bis es wieder aufwärts geht wird leider noch weitere wertvolle Zeit vergehen.Mit freundlichen Grüssen
Walter Sattinger
Principal Grid Studies Engineer
Grid Models & Analysis
Swissgrid AG
Grid Auction Office Switzerland
P.O. Box 2457
CH-5080 Laufenburg
Werkstrasse 10, Büro 208
Die Antwort zeigt bewusst nicht mit dem Zeigefinger auf den Schuldigen und ist auch nicht unbedingt selbsterklärend. Aber inhaltsschwerer als 1000 Kommentare bei Heise und Co.
Fakten und relevante Informationen müssen eben in mühsamer Kleinarbeit zusammengetragen werden, ist nur eben gerade nicht so in Mode. Oder um mit Marc-Uwe Kling zu sprechen:
Die Informationsmüllindustrie hat so ein perfides, ausgefuchst, schlaues System geschaffen, man müsste es bewundern, wenn man nicht drin stecken würde. Ja sicher, bei uns gibt es Pressefreiheit. Prima! Hier gibt es keine Zensur. Toll! Ist ja auch gar nicht nötig. Denn das Wichtige, das Interessante sucht man in der Informationsmüllhalde sowieso vergeblich.
Nur wer ein paar Schritte zurückgeht und die ganze Müllhalde in den Blick nimmt findet doch eine kleine Wahrheit. Nämlich: Das ist eine Müllhalde.
Update, 05.03.2018: Nun gibt es eine offizielle Meldung auf der ENTSO-E-Website und auch einen entsprechenden Artikel bei Heise. Bei MDR Jump findet sich dafür eine vollkommen falsche Ursachenvermutung – als ob die Kälte damit irgendwas zu tun hätte, genauswenig wie die zurzeit hohen Stromimporte Frankreichs aus Deutschland.
Update, 03.04.2018: Die Netzzeit ist wieder korrigiert. Auf SRF gibt es einen vergleichsweise gehaltvollen Beitrag über die Hintergründe.